HT 2023: Wie elastisch ist die Wahrheit? Methoden und Ergebnisse mediävistischer Historiographieforschung

HT 2023: Wie elastisch ist die Wahrheit? Methoden und Ergebnisse mediävistischer Historiographieforschung

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Gregor Rohmann, Historisches Institut, Universität Rostock

Dass Geschichtsschreiber nicht vermitteln, was geschehen ist, sondern vielmehr, wie sie es gern gehabt hätten, lernen wir im Proseminar. Überhaupt neigen wir alle bekanntlich dazu, die Dinge so zu sehen, wie wir sie eben sehen möchten. Die Medienrevolution der Gegenwart verstärkt insofern allenfalls eine Grundbedingung aller Kommunikation. Die Einsicht in die Notwendigkeit stetiger Quellenkritik macht daher bekanntlich das Proprium der Geschichtswissenschaft aus, und eben deshalb hätte sie auch eine genuine Expertise zu diesem derzeit allerorten diskutierten Problem anzubieten. Das Oberthema „Fragile Fakten“ bestimmte daher auch eine der wenigen Sektionen zur Mittelalterforschung beim diesjährigen Historikertag. Und die Beiträge bewiesen durchaus, dass der Blick auf die Vormoderne hier sehr erhellend sein kann. Versuchten sie doch, das Selbstverständliche systematisch zu durchdenken. Sie konnten dabei auf eine lange Tradition der Forschung zurückblicken, in der die Konstitutionsbedingungen von „Wahrheit“, „Wahrhaftigkeit“ und „Wirklichkeit“ in der Historiographie des Mittelalters differenziert herausgearbeitet worden sind.

Seit Jahrzehnten an dieser Debatte maßgeblich beteiligt ist JEAN-MARIE MOEGLIN (Paris), der denn auch in seiner Einführung darauf hinwies, dass die vormoderne Rekonstruktion der Vergangenheit von dem Anspruch der historia magistra vitae ausging: Die Wirklichkeit einer Geschichte bemaß sich an ihrer Verwendbarkeit als exemplum zur Belehrung und Erbauung, nicht an einem abstrakten Objektivitätsanspruch. Nur nebenbei erwähnte Moeglin die Funktion der Traditionsbildung als herkommen, um hier eine Begriffsprägung von Klaus Graf aufzugreifen. Mit diesen beiden Faktoren sind wir mitten in der Gegenwart, denn jede politische Instrumentalisierung der Vergangenheit legitimiert sich im Grunde bis heute unter Rekurs auf diese zwei – und jede ihrerseits mutmaßlich interessegeleitete Kritik daran beruft sich auf eine abstrakte Faktizität abseits aller „Subjektivität“. Methodisch reflektierte Auswege aus dieser epistemischen Zwickmühle wollte der Historikertag insgesamt diskutieren. Was also hat die Medävistik hierzu beizutragen?

Man sollte, so Moeglin, die vormoderne Geschichtsschreibung einerseits auf ihre Modi der Authentisierung hin untersuchen, also auf die Frage, wie die Chronisten sicherstellten, dass ihre Texte als die „Wahrheit“ anerkannt werden konnten. Er benannte hier vor allem zwei Faktoren: einerseits die Berufung auf Augenzeugenschaft, wie sie schon aus der Antike und dem Neuen Testament bekannt ist – also die „räumliche und zeitliche Nähe“, von welcher Übungen zur Quellenkritik im Proseminar bis heute sprechen; und andererseits die angeblich oder tatsächlich unveränderte Übernahme von Textbausteinen im Rahmen der für die Schriftlichkeit der Vormoderne typischen Kompilatorik. Die ostentative Heterogenität mittelalterlicher Kollektaneen wird so als Strategie der Herstellung von Faktizität deutbar, während das Gegenteil, die literarische Durcharbeitung, immer den Verdacht der Fiktionalisierung auf sich zog (und zieht).

Andererseits sollten die Modi der perspektivischen Konstruktion herausgearbeitet werden, also die Mittel, welche die Chronisten anwendeten, um diese „Wahrheit“ ihren Vorstellungen entsprechend zuzuschneiden. Diese sind nun wesentlich einfacher zu beschreiben, weshalb sich die weiteren Vorträge des Panels leider etwas zu sehr auf diese zweite Frage konzentrierten. GERALD SCHWEDLER (Kiel) versuchte sich an einer Systematik der Manipulationsformen (etwas zu poetisch als „Sieben Künste des Verschleierns“ apostrophiert). Er hob dabei vor allem auf Techniken des framings ab, also auf die spezifische semantische und narrative Rahmung einer „ungewollten Wahrheit“ abseits der argumentativen Sachebene. 1. Chronisten konnten ihrer Darstellungsabsicht zuwiderlaufende Fakten demnach durch Vereinfachung und Verknappung herunterspielen. 2. Sie konnten sie durch die indirekte Verkopplung mit negativen Attributen disqualifizieren (etwa durch die Thematisierung von Vorzeichen). 3. konnten Akteure durch ihre Beschreibung mehr oder weniger sublim negativ oder positiv gezeichnet werden. 4. wurden durch literarische Verfahren der narrativen Dramatisierung emotionale Nähe und der Anschein der Authentizität produziert. 5. Eher auf didaktische und paränetische Modelle konnte hingegen eine typologische Charakterzeichnung rekurrieren. 6. bestand je nach Schreibsituation eventuell auch die Möglichkeit der expliziten Kritik und Parteinahme, und 7. konnten ungeliebte Wahrheiten natürlich auch einfach nicht thematisiert werden.

ANDRZEJ PLESZCZYŃSKI (Lublin) zeichnete nach, wie Jan Długosz (1415–1480), Sekretär des Bischofs von Krakau und Diplomat in Diensten des polnischen Königs, in seinen „Annalen“ die Rolle der orthodoxen Ruthenen (Ukrainer) innerhalb des Polnisch-Litauischen Großreiches schildert. Drei historische Prozesse wurden dabei exemplarisch behandelt: die Christianisierung der Rus unter Großfürst Wladimir I. (um 960–1015); die Integration Rutheniens in das Königreich Polen unter Kasimir III. (1310–1370); und schließlich der Bürgerkrieg 1431–1435 gegen König Władysław II. Jagiełło (vor 1362–1434). Während Długosz die ethnischen Differenzen herunterspielt und die Kiewer Rus implizit als althergebrachten Teil Polens auffasst, wird der konfessionelle Gegensatz bei ihm zu einer grundsätzlichen Unterscheidung von lateinisch-christlicher Zivilisation und griechischer Barbarei. Zur eigentlich treibenden Kraft hinter allem Zwist hingegen macht er die Juden – eine bekanntlich bis heute geläufige Projektion.

Wie Geschichte von Besiegten und Siegern geschrieben wird, verglich MARIE-KRISTIN REISCHL (Chemnitz) anhand der Schlachten bei Dürnkrut zwischen Rudolf I. von Habsburg und Ottokar II. vom Böhmen (1278) und Mühldorf zwischen Friedrich dem Schönen und Ludwig dem Bayer (1322). Man musste Niederlagen nicht verschweigen, sondern konnte auch die Verlierer als besonders heroisch und ritterlich stilisieren und so aus dem Verlust noch einen geschichtspolitischen Gewinn ziehen – ein Muster, dass spätestens seit der Schlacht an den Thermophylen (480 v. Chr., Herodot) oder der Belagerung von Masada (73/74 n. Chr., Flavius Josephus) geläufig gewesen sein dürfte.

Wie verhielten sich schließlich Religiosität und Wahrheitsanspruch der Chronisten zueinander? Dies untersuchte GRISCHA VERCAMER (Chemnitz) anhand der Darstellung König Sigismunds (1368–1437) bei Andreas von Regensburg, Eberhard Windeck und Thomas Ebendorfer. Inwiefern wurde dieser Herrscher, in dessen Regierungszeit ja immerhin die Beendigung des Großen Abendländischen Schismas, die großen Konzilien und die Hussitenkriege fallen, als rex christianus inszeniert? Das hing ganz von der Perspektive des Chronisten auf den König ab, so die Antwort, und von den putativen Erwartungen des Publikums. Die Grenzen des historiographisch Sagbaren, wie Vercamer unter Rekurs auf Gerd Althoff ausführte, waren im Feld des Glaubens besonders heikel. Insgesamt spielte die religiöse Legitimation in den Chroniken eine auffällig geringe Rolle, was bei einem Herrscher, der so direkt in kirchliche Autoritätskonflikte eingriff, überraschend bleibt. Eine Sakralisierung des Königtums, so könnte man schlussfolgern, war für spätmittelalterliche Chronisten keine Option.

In der Diskussion wurde zu Recht die Frage gestellt, inwiefern hinter all den hier beschriebenen Strategien immer eine Intentionalität anzunehmen sei. Auch hier mag man sich an Diskussionen aus dem Proseminar erinnert fühlen, in denen es immer wieder um die moralische Beurteilung von historischen Textproduzenten ex post geht, wo doch eigentlich ganz grundsätzliche Probleme der Intersubjektivität von Wahrnehmung und Darstellung oder der Konsensbildung in Diskursgemeinschaften im Raum stehen, worauf die Organisatoren auch zumindest hinwiesen. Von den Beiträgen der Sektion wurde die Ebene der reinen Beschreibung von Manipulationstechniken jedoch nur selten überschritten. Sie fügen sich damit in das Bild der epistemologisch zumeist nicht sehr tiefschürfenden öffentlichen Debatte über Fake News und „alternative Wahrheiten“. Das Problem der gesellschaftlichen Wahrheitsregime im Allgemeinen und der Konstruiertheit von Geschichte im Besonderen ist andernorts schon grundsätzlicher diskutiert worden. Für die Besucherinnen und Besucher der Leipziger Sektion bleiben einige lehrreiche und unterhaltsame Fallstudien.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Gerald Schwedler (Kiel) / Grischa Vercamer (Chemnitz)

Jean-Marie Moeglin (Paris): Einführung

Gerald Schwedler (Kiel): Die sieben Künste des Verschleierns: Wahrheitstechniken in der Geschichtsschreibung des späteren Mittelalters

Andrzej Pleszcyński (Lublin): 'Geschminkt und retuschiert` - Die Haltung der spätmittelalterlichen polnischen Könige gegenüber den orthodoxen Ruthenen in den Annalen von Jan Długosz (†1480)

Marie-Kristin Reischl (Chemnitz): Schöne Niederlagen? Die historiographische Inszenierung des spätmittelalterlichen Fürsten als Krieger, Feld- und Kriegsherr im süddeutschen Raum

Grischa Vercamer (Chemnitz): Ein fromer keiser und mensch – Religiosität der Fürsten als stilistisches Mittel zeitgenössischer Historiographen im Spätmittelalter in Mitteleuropa

https://www.historikertag.de/Leipzig2023/
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